Wiegenlieder - hellwach
Nachtgeschichten und Wiegenlieder im Frauenhaus
Vor einigen Jahren hatte Stefan Weiller aus beruflichen Gründen Zugang zu Frauenhäusern. In einem Haus, das stark ausgelastet und voller Unruhe zu sein schien, fiel dem Autor eine junge schwarze Frau auf, die im von Lärm und Getöse geprägten Aufenthaltsbereich einem kleinen Kind ein Wiegenlied sang. Das Lied in diesem unruhigen Umfeld zu hören, regte Weiller an, Erfahrungen häuslicher Gewalt zu Geschichten zu verarbeiten und mit Schlaf- und Wiegenlieder zu verbinden.
Weiller rechcherierte dafür in mehreren Frauenwohneinrichtungen, die ihm den Zugang gewährten und Frauen und Müttern die Möglichkeit zum Gespräch mit dem Autor eröffnete. Für eine Neubearbeitung als Hörbuch wird auch häusliche Gewalt gegen Männer aufgegriffen.
Es ist tief ergreifend, wie sich die alten, vermeintlich harmlos-seligen Schlaf- und Wiegenliedertexte mit den Erfarhungen von Gewalt, Angst, Not, Wut, Verzweiflung inhaltlich verbinden - und wie sich aus dieser Gegenüberstellung neue Einsichten zum Tabu-Thema Häusliche Gewalt gewinnen lassen.
Häufig schweigen Menschen über ihre Gewalterfahrung - und schützen somit die Täter. Scham darf nicht dazu führen, dass Menschen Gewalt nicht anzeigen. Deshalb ist es wichtig, dass Gesellschaften sich diesen Phänomenen stellen, denn Gewalt ist nicht privat, sie ist ein Verbrechen, gegen das man sich gemeinsam stellen muss.
Sorgen halten wach. Die Sehnsucht nach Ruhe und Erholung ist in der Zeit der Sorge am tiefsten. In extremen Situationen leiden viele Menschen an Unruhe und Schlaflosigkeit, die ihre Situation und ihr Lebensgefühl zusätzlich beeinträchtigt. Bei Besuchen und Gesprächen in Frauenhäusern wird deutlich, dass Frauen, die alleine oder mit Kindern aus einer häuslichen Gewaltsituation geflohen sind, oft nächtelang grübeln, zweifeln, hadern. Es ist eine Mischung aus Angst vor der Zukunft und schmerzlicher Erinnerungen der Vergangenheit, die zu den durchwachten Nächten führt.
Nirgendwo scheint die Sehnsucht nach Vergessen und Ruhe bringendem Schlaf tiefer als in einem Frauenhaus. Wenn hier, wie es oft geschieht, den Kindern Lieder zum Einschlafen vorgesungen werden, dann klingt in diesen Liedern auch ein bitterer Ton, ja sogar Angst und Ungewissheit mit. Die Verletzungen an Körper und Seele sind lange nicht überwunden und ist jedes im Frauenhaus gesungene Schlaf- und Wiegenlied ein Versprechen auf eine bessere Zeit.
Wer die Liedtexte bekannter Wiegenlieder "Weißt du wieviel Sternlein stehen", "Der Mond ist aufgegangen" und vieler weiterer, auch internationaler Schlaf- und Wiegenlieder analysiert, stellt fest, dass diese vertrauten Lieder keineswegs harmlos sind, sondern gerade von Anfechtung, Sorge und Angst erzählen. Sie scheinen für Menschen in Not gemacht worden zu sein.